Leseteufel Deutsch

Schalansky Judith

    Der Hals der Giraffe

Suhrkamp, Berlin 2011

Precht

Schade, dass Judith Schalansky mit diesem “Bildungsroman” zwar auf der Auswahlliste zum Buchpreis 2011 stand, ihn aber doch nicht bekam. Hier schreibt eine junge Autorin völlig gegen den herrschenden Bekenntnisliteraturzwang an und zeigt schon in der liebevoll altmodischen Aufmachung des Buches, wie widerborstig-anspruchsvoll ihr Literaturbegriff ist.

Der Leseteufel hatte das große Vergnügen, die Autorin zu erleben, wie sie aus ihrem Buch gekonnt, klagend, ironisch, pointiert vorliest und Fragen dazu mit hintergründigem Humor beantwortet, noch dazu in der bayrischen Diaspora.

Denn die 55jährige Protagonistin, die Biologie- und Sportlehrerin Inge Lohmark, lebt, wie früher auch die Autorin, in der Pommerschen Provinz, unterrichtet den letzten Jahrgang eines Gymnasiums in der Abwicklung und sieht sich auch selbst als Relikt einer aussterbenden Pädagogenspezies, die streng autoritär unterrichtet und gnadenlos Leistung von ihren versprengten 12 Schülern einfordert. Als Sinnbild dafür gilt ihr die Giraffe, die im Laufe der Evolution ihren Hals zu solcher Länge entwickelt hat, um das Überleben der Gattung zu sichern. Dass dies für Menschen nur mittels Bildung (Buch) möglich ist, zeigt das Layout. Die Schwarz-Weiß-Abbildungen im Inneren des Buches entnahm die Autorin alten DDR-Biologiebüchern.

Schalansky entstammt einer Lehrerfamilie und kennt daher die Innenseite der Institution Schule bis ins Detail. Ob Inge Lohmark ein Vorbild in ihrer  Biografie hat, lässt die Autorin auf Nachfragen offen.

Aber für viele vom derzeitigen System Schule desillusionierte Lehrkörper sind die herzlosen Ansichten Lohmarks eine Offenbarung, wie die Reaktion im Publikum bei der Lesung recht deutlich machte.

Lohmark sieht ihre Schutzbefohlenen streng deterministisch-biologistisch als Lebewesen, die der Zuchtwahl ausgesetzt sind wie alles andere in der Natur. Im Gegensatz zu den schwitzenden, pubertierenden, dumpf desinteressiert vor sich hin wachsenden Schülern erscheinen ihr die Quallen, die sie als großes Poster im Gang aufgehängt hat, als perfekte, ästhetisch-schöne Lebewesen.

Wie unterm Mikroskop betrachtet Lohmark scheinbar gefühllos ihre Mitmenschen, ob Kollegen oder die eigene Familie, wobei Schalanskys trockener, origineller Stil die Lektüre trotz einiger Längen zum Vergnügen macht.

Und wie in einem Palimpsest wird hinter Lohmarks monotonem innerem Monolog sichtbar, dass wahre Gefühle und die Fähigkeit, sie auszuleben, in Wirklichkeit die Existenz des Menschen bestimmen.